ZWISCHEN WASSERFÄLLEN UND FJORDEN
FÜNF FREUNDE IM NORWEGISCHEN EIS
by Angelika Rainer
Angelika Rainer ist eine leidenschaftliche Eiskletterin. Im Laufe ihrer mehr als 20-jährigen Karriere wurde die in Meran geborene „Eiskönigin“ zu einer Ikone dieser Disziplin, gewann drei Weltmeistertitel und zweimal die Gesamtweltcupwertung.
Nach ihrem Abschied vom Wettkampfsport begann Angelika, der Schwerkraft auf den schwierigsten Mixed- und Dry-Tooling-Routen der Welt zu trotzen und darüber hinaus den von ihr gemeisterten Schwierigkeitsgrad auch am Fels allmählich zu verbessern. Im Jahr 2023 erfüllte sie sich mit „Esclatamasters“ den Traum von der ersten 9a Route ihrer Karriere und war damit die erste Karpos Athletin, die die 9er- Marke knackte.
Im Februar 2024 nahm die Südtirolerin die Wasserfälle von Hemsedal, das als norwegisches Mekka für die Liebhaber der Eiskletterei gilt, und die Eisfälle des Sognefjords ins Visier. Eine Reise, die allerdings keine Einstimmung auf die Rückkehr zum Wettkampfsport war, sondern eine willkommene Gelegenheit, alte Freundschaften wieder aufleben zu lassen und die Faszination des Eiskletterns neu zu entdecken.
HEMSEDAL
Die Gegenden, die wir während unseres Abenteuers in Norwegen besucht haben, sind genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte.
Kennt ihr diese märchenhaften Orte, die das ganze Jahr über so wirken als sei Weihnachten?
Nun, unser Ausgangspunkt, um die Routen in Angriff zu nehmen, ist ein Haus aus dunklem Holz, das unter einem Meter Schnee versteckt ist und in dessen Garten stolz die norwegische Flagge weht.
Meine langjährigen Freunde Martin, Karina, Moni sowie Michi und ich wählten als Ausgangspunkt einen Ort in der Nähe von Hemsedal, um die Besonderheiten dieser Landschaft in vollen Zügen genießen zu können. Schon seit einigen Jahren schmökerte ich in Reiseführern über die Gegend, die als das beste Eisklettergebiet der gesamten Halbinsel gilt. Hier entstehen an den kargen Bergen riesige Eiswände von teilweise hochalpinem Charakter.
Die idealen Witterungsbedingungen während des gesamten Winters machen diese Region zu einem wahren Paradies für Eiskletterer, die die weitläufigen Eisfälle in Angriff nehmen und sich in Routen aller Schwierigkeitsgrade austoben können.
Am ersten Tag entscheiden wir uns für die beiden bedeutendsten "isklatrevegg" (Eiskletterwände) von Hemsedal, um uns einzustimmen und uns mit den dortigen Bedingungen vertraut zu machen. Bei leichtem Schneefall kommt beim Klettern einiger kurzer Routen im vierten Schwierigkeitsgrad die pure Freude am Eisklettern zurück. Wir teilen uns in zwei Seilschaften auf und klettern dann den großen „Tuvfossen“, der sicherlich zu den attraktivsten und spektakulärsten Routen unseres gesamten Aufenthalts in Norwegen gehört. Das Klettern hier ist atemberaubend: Die Wasserfälle mit kompaktem Eis, in einem Blau, das zwischen den Blautönen liegt, die man in Island und Kanada findet, bedeuten für mich Winter in seiner schönsten Form.
An unseren letzten Klettertagen in Hemsedal wollen wir den klaren Himmel und die kalten Temperaturen nochmals nutzen, um eine weitere Herausforderung anzugehen: den Hydalsfossen (IV+ - V), eine 100 Meter lange, 80 Grad geneigte Wand, die die meiste Zeit des Jahres im Schatten liegt und in die der Zustieg nur von oben möglich ist.
Als wir nach unserer zweistündigen Schneeschuh-Wanderung den Wasserfall erblicken, sehen wir, dass er vollständig mit viel Neuschnee bedeckt ist. Bedenken in Bezug auf die Sicherheit und die Schwierigkeit, selbst nur ein Seil anzubringen, halten uns davon ab, auch nur ansatzweise einen Kletterversuch zu unternehmen. Aber der einzige Misserfolg dieser Reise ist gleichzeitig auch der schönste Moment: Der 360-Grad-Ausblick auf die umliegenden Berge im Herzen Norwegens ist ein Hochgenuss, den ich ohne Bedauern gegen eine weitere Route in meinem Lebenslauf eintausche. Außerdem habe ich so einen triftigen Grund, um wiederzukommen.
SOGNEFJORD
Durch einige spannende Berichte, die wir auf verschiedenen Blogs gelesen hatten, und animiert durch beeindruckende Fotos meiner Reisebegleiter, beschließen wir, für die nächsten Tage in den Sognefjord zu fahren, den längsten Fjord Norwegens und den zweitlängsten Fjord der Welt. Ein unendlich wirkender Korridor aus endlos vielen Steilwänden, die sich in der Ostsee in einem Spiel aus Licht und Schatten spiegeln. Unser Ziel ist ein Wasserfall mit Blick auf das Meer. Wie aber vorhergesagt, verhindern die warmen Meeresströmungen selbst im Winter die Bildung von Eis. Durch die kurzen Zeitfenster kalter Wetterbedingungen im Jahr sind diese Routen meist nur den Einheimischen und einigen wenigen glücklichen Reisenden vorbehalten, die zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind. Ich schätze, wir werden wiederkommen müssen, um es erneut zu versuchen!
Wir kehren um und fahren zum Talausgang zurück, wo wir praktisch neben der Straße einen Eisfall gesehen haben. Es handelt sich um den Seltunfossen (IV+) - wenig frequentiert, aber gleichzeitig einer der interessantesten in der Gegend. Vier einfache Seillängen führen uns zur großen und steilen Hauptwand, wo man noch vier weitere Seillängen klettern muss, um die Route zu beenden. Und auch diese ansonsten nicht allzu schwierige Route wird durch die Gesellschaft meiner Partner, die atemberaubende Landschaft und die Tatsache, dass wir alleine an diesem wunderschönen Eisfall sind, zu etwas ganz Besonderem.
Unser Abenteuer neigt sich langsam dem Ende zu. Es bleibt uns gerade noch genug Zeit, um uns den Haugsgjel Wasserfall vorzunehmen.
Ein anspruchsvoller Zustieg mit mehr als zwei Stunden Kletterei auf steilem Geröll dient als Einstimmung auf einen wunderschönen Aufstieg in einer beeindruckenden Umgebung, die durch den Blick auf den Fjord gekrönt wird, der einem den Atem raubt und die Sprache verschlägt. Aus technischer Sicht ist die erste Seillänge (V) am interessantesten, aber auch in den anderen Seillängen sind wir gefordert, um unsere letzte Route erfolgreich abzuschließen.
Und wie so oft bei meinen Unternehmungen zieht auch jetzt, am letzten Tag, ein heftiger Schneesturm auf, der es nicht zulässt, uns mit einem letzten Aufstieg von diesen eindrucksvollen Wasserfällen zu verabschieden.
Letztendlich ist es wichtiger, dass niemandem etwas passiert ist. Während draußen der Schnee fällt und der Wind heult, kann ich meine Freunde meine kulinarischen Spezialitäten kosten lassen: Pizza und zum Nachtisch Zimtschnecken, ein typisch skandinavisches Gebäck. Und während Erinnerungen an die vergangenen Jahre auftauchen, richten sich unsere Gedanken bereits auf künftige Projekte in der Vertikalen.