DIE BERÜHMTESTE TERRASSE IN DEN DOLOMITEN
Bevor sich Ugo Pompanin in den späten 1950er Jahren in diesen Ort verliebte, hatte der Gipfel des Lagazuoi einen noch unbekannten Charme. In der Erinnerung der älteren Generation galt er als ein trister Ort, ein Ort des Krieges. Drei Jahre lang, von Juni 1915 bis November 1917, hatten die italienischen Gebirgsjäger und die österreichischen Kaiserjäger im Inneren des Berges Gräben und Stollen gegraben und unter extremen Bedingungen gekämpft. Die jüngeren Generationen allerdings assoziierten mit dem Lagazuoi eine besondere Art des Bergsteigens, die dieses Felsmassiv sowohl im Sommer als auch im Winter ermöglichte.
Für Ugo, Mitglied der Scoiattoli di Cortina, der legendären Bergsteigervereinigung von Cortina d'Ampezzo, war dies eine einzigartige Umgebung, in der er sich selbst auf die Probe stellen konnte, während er gleichzeitig diesen Berg mit seinen senkrechten Wänden, schlanken Türmen und Felsvorsprüngen sowie den Panoramablick, so weit das Auge reicht, genoss. In jenen Jahren konzentrierte sich Pompanin auf bedeutende Routen wie den Torre del Lago und den Spigolo Torre di Fanes. Diese Touren sind heute große Klassiker. "Bei diesen Besteigungen erkannte mein Vater das touristische Potenzial des Gebietes", sagt Guido Pompanin, der die Lagazuoi-Hütte seit 40 Jahren leitet. Wie ein Balkon mit Blick auf die Dolomiten. Während er spricht, führt er uns nach oben, um uns die Zimmer und die schöne Aussicht von der großen Panoramaterrasse zu zeigen.
Bevor er an das Rifugio dachte, gründete Guidos Vater zusammen mit einigen Freunden ein Unternehmen, um eine Seilbahn zu bauen, die die Touristen vom Passo Falzarego bis in die Nähe des Gipfels bringen sollte, damit jeder in den Genuss dieser atemberaubenden Aussicht auf die Dolomiten, die zum UNESCO-Welterbe gehören, kommen konnte. "Ein wahres Meer von Gipfeln", sagt Guido, "vom Piz Cunturines zur Fanesgruppe, zum mächtigen Dreigestirn der Tofana, zur Geislergruppe und zur prächtigen Marmolada".
Heutzutage ist Ugo Pompanin, der im November 2022 im Alter von 96 Jahren starb, auf zahlreichen Fotos zu sehen, die an verschiedenen Stellen im Rifugio aufgehängt sind. Sie erzählen seine Geschichte auf unkonventionelle Weise. Bergführer, Mitglied der Bergwacht, Hüttenwirt. Irgendwie sogar Visionär in seinem Vorgehen. "Mein Vater war Bergsteiger und Bergführer", sagt Guido mit leuchtenden Augen, als er seinen Vater beschreibt, während wir die Sonne auf der Terrasse genießen - dank ihres unglaublichen Panoramas die berühmteste Terrasse der Dolomiten.
"Er selbst kam nur noch wenig zum Klettern, denn das Rifugio zu bauen, war sehr zeitaufwändig und vereinnahmend. Als die Arbeiten hier begannen, gab es nur die Ruinen aus dem Ersten Weltkrieg, von denen noch viel mehr zu sehen waren als heute, und die unberührte Natur." Vor uns liegt der Marmolada-Gletscher. Ganz oben, in der Mitte, an der Spitze, erscheint ein dunkler Fleck. Es ist erst eine Woche her seit der schrecklichen Lawine, die elf Menschenleben forderte. "Das Gebirge hat sich seit den 1960er Jahren stark verändert", sagt Pompanin, während seine Augen etwas suchen, das nicht zu finden ist. Sein Blick huscht von einer Stelle zur nächsten, als ob er nicht wüsste, was geschehen ist. "Es zeigt uns seine Vergänglichkeit."
Die Bauarbeiten an der Hütte begannen im Frühjahr 1964, einige Monate nach der Einweihung der Seilbahn, und wurden im September 1965 abgeschlossen. "Als er entschieden hatte, die Hütte zu bauen, kaufte Papa zuerst das Land, denn eine Sache gehört einem nur dann, wenn man das Land besitzt, auf dem man sie baut." Es war ein Beschluss, der unsere ganze Familie betraf und der ihr bisheriges Leben auf den Kopf stellte.
Für Ugo war es eine Entscheidung, die von seiner Leidenschaft bestimmt war. "Wir haben es erst viel später, nach einigen Jahren, verstanden. Die Leidenschaft meines Vaters für das Gebirge und sein bergsteigerischer Hintergrund spielten eine maßgebliche Rolle bei seiner Entscheidung: Er verliebte sich in diesen Ort und dieses großartige Panorama". Um dieser Leidenschaft nachzugehen, gab er seinen sicheren Arbeitsplatz als Leiter einer Metzgerei auf und überzeugte seine Frau Alda, ihm zusammen mit den Kindern zu folgen. Das Miteinander ihrer Persönlichkeiten schuf ein Rifugio mit einem einzigartigen Charakter. "Sie war sehr temperamentvoll und sie hatte einen ausgeprägten Sinn für Gastfreundschaft. Sie sagte immer: 'Ugo hat mich zum Lagazuoi mitgenommen, als ich dort nicht hin wollte, und er hat mich wieder mitgenommen, nachdem ich mich in diesen Ort verliebt hatte und davon völlig hingerissen war."
Doch der Vater konnte das Adlernest in den Dolomiten nie ganz loslassen. "Er kam immer wieder hoch, um sich zu vergewissern, dass in seinem Rifugio alles in Ordnung war", erinnert sich Guido mit gebrochener Stimme. "Er rief jeden Tag an, um sich zu erkundigen, wie die Arbeit gelaufen war, ob mit dem Personal alles passte. Bis zum letzten Tag war er der Besitzer."
Heute ist das Rifugio ein modernes Gebäude, das dank der Seilbahn mehr Komfort bietet als abgelegene Unterkünfte. "Aber es ist immer noch ein Leben, das einige Opfer erfordert. Als mein Bruder Paolo und ich aufwuchsen, haben wir immer eine gewisse Hass-Liebe für diese Entscheidung empfunden, die unser Leben so sehr beeinflusst hat", erklärt Guido, der praktisch sein ganzes Leben hier auf der Hütte verbracht hat. "Ich erinnere mich an die Zeit, als ich noch ein Kind war und hier auf der Terrasse mit meinem Bruder spielte. Als ich dann 14 Jahre alt wurde, begann ich zu arbeiten. Die Erinnerungen an meine Sommer fallen mit den Jahreszeiten dieser Hütte zusammen." Im Jahr 1978, also vor mehr als 40 Jahren, kam dann die Leitung der Hütte. "Ich ging allerdings mit der Überzeugung hier hinauf, dass ich bald meinen Einberufungsbescheid erhalten würde. Am Ende bin ich geblieben, trotz aller Widrigkeiten", sagt Guido lachend, fast gerührt. Ursprünglich dachten alle, dass sein Bruder Paolo bleiben würde. "Er ist immer mit Papa geklettert und hat zehn Jahre lang hier gearbeitet. Jetzt lebt er in Kalifornien.
Stattdessen bin ich hier gelandet, weil ich im Studium nicht so erfolgreich war und außerdem war mein Vater in dieser Hinsicht sehr streng: Entweder man studiert oder man arbeitet." Letztendlich hat auch er sich in diesen Ort verliebt. "Die Tage sind lang und anstrengend, aber ich mache es gerne. Ich bin hier mit meiner Familie, an einem unglaublichen Ort, den jeder genießen kann".
Die Seilbahn macht das Bauwerk für alle zugänglich und ermöglicht es auch denjenigen, die nicht zu Fuß aufsteigen können, die Gipfel der Dolomiten zu bewundern. "Die Seilbahn hat keine bautechnischen Barrieren - sie ist behindertengerecht konzipiert und ausgestattet", erklärt Guido. "Das Gleiche gilt für die Terrasse der Hütte, die auch mit dem Rollstuhl erreicht werden kann." Aber das ist noch nicht alles. Im Inneren gibt es Treppenlifte und Einrichtungen, die für Menschen mit eingeschränkter Mobilität konzipiert sind. "Wenn sie wollen, können sie sogar das Gipfelkreuz des Piccolo Lagazuoi auf 2.778 Metern Höhe erreichen." In der Tat ist der Weg, der von Freiwilligen Helfern der Nationalen Gebirgsinfanterie der Sektion Treviso hergerichtet wurde, eine unbefestigte Straße, die auch von Rollstuhlfahrern oder Menschen mit eingeschränkter Mobilität bewältigt werden kann. "Vieles hat sich in 50 Jahren verändert, aber der Geist und die Gastfreundschaft haben immer noch dieselbe große Bedeutung wie bei unseren Eltern".
PORTRAIT VON UGO POMPANIN BY MANRICO DELL’AGNOLA
Er war ein attraktiver Mann, groß, liebenswürdig, mit viel Anmut. Er unterschied sich sehr von vielen seiner Kollegen - die zwar immer ehrenwerte Menschen waren, aber deren Auftreten rauer und schroffer wirkte. Ich habe Ugo Pompanin vor langer Zeit kennengelernt und unter seinen vielen Erfolgen gibt es einen, der mich immer beeindruckt hat: Zusammen mit Gino Soldà hat er die Cassin-Route am Torre Trieste begangen. In nur zwei Tagen, am 2. und 3. September 1948 - wie aus einer anderen Welt. Er war bis vor wenigen Monaten ein Teil der Geschichte unter uns. Einer der letzten Vertreter einer Art des Bergsteigens, die vor allem in den letzten Jahren fast verschwunden und leider in Vergessenheit geraten ist beziehungsweise nicht für ihren wahren Wert entsprechend gewürdigt wird. Diese Route wurde 1935 von Riccardo Cassin und Vittorio Ratti in drei Klettertagen erschlossen, doch aufgrund des Krieges mussten all die Jahre vergehen, bis ein wagemutiger Kletterer den Mut fand, sie zu wiederholen. Ugo war noch sehr jung und sein Partner war einer der besten Kletterer der damaligen Zeit. Ugo war wie ein ungestümes Kind und wollte unbedingt als Erster klettern, aber Gino war der Chef und wollte die schwierigsten Seillängen vorsteigen, obwohl Ugo auch dazu in der Lage war.
Bis vor ein paar Jahren konnte man ihn noch auf Skiern die Pisten hinunter sausen sehen, allein oder mit seinen Enkeln, glücklich und stolz auf seine Berge, die schönsten der Welt. Und wenn wir heute dieses "Adlernest" zwischen den berühmtesten Gipfeln der Dolomiten genießen können, dann verdanken wir dies ihm.